Heinrich Wetzstein
Geburtsdatum: 02.Februar 1902 Trier
Sterbedatum: 26.01.1940 Andernach
Stolperstein: Seitz-Straße 5, verlegt 6. April 2011 im Beisein des Neffen Raimund Scholzen.
Heinrich Wetzstein (1902–1940). Die Aufdeckung seines Verfolgungsschicksals als Psychiatriepatient im Zusammenhang des Stolperstein-Gedenkprojekts. Mit einer Dokumentation seiner Krankenakte
Von Thomas Schnitzler
11 Seiten im PDF-Format (wie der folgende Text), erschienen im Kurtrierischen Jahrbuch 2017
Abb. 1 Stolpersteinverlegung am 6. April 2011 in der Seitzstraße. Quelle: Trierischer Volksfreund v. 7.11.2011
Abb. 2 Stolperstein, Seitstraße 5. Verlegt an 6, April 2011. Privatfoto 2017
Die erste namentliche Identifizierung von Heinrich Wetzstein als Psychiatriepatient basierte auf einer im Landeshauptarchiv Koblenz ausgewerteten Krankentransportliste des Datums 15. August 1939. An jenem Tage fuhr ein Autobus von dem Trierer Krankenhaus der Barmherzigen Brüder einen Sammeltransport mit psychisch Kranken nach Andernach in die dortige Heil- und Pflegeanstalt. In der Lokalhistorie wurde derselbe erwähnt als einer von vier Sammeltransporten des Monats August 1939, mit denen die komplette Räumung der sogenannten „Heil- und Pflegeanstalt“ des Brüderkrankenhauses eingeleitet wurde für das zu Beginn des 2. Weltkrieges in Betrieb genommene Militärlazaretts. Von der angenommenen Gesamtzahl der 542, namentlich bisher nicht benannten Psychiatriepatienten soll kein einziger den organisierten Krankenmord der Jahre 1941-44 überlebt haben.
In dem mit mindestens 70 Personen vollbesetzten Autobus saßen hinter milchverglasten Scheiben außer Heinrich Wetzstein achtzehn weitere Kranke, deren Schicksal durch das bisherige Gedenkprojekt geklärt wurde: Bernhard Baden (1878-1942), Josef Becker (1878-1943), Wilhelm Besslich (1903-1941), Jakob Hemgesberg (1869-1939), Michael Hoffmann (1911-1940), Matthias Jakobs (1890-1943), Mathias Koch (1919-1941), Lorenz Koster (1902-1940), Oskar Laloire (1890-1940), Johann Maes (1876-1941), Anton Martini (1866-1942), Mathias Masselter (1894-1841), Eduard Meyer (1906-?), Franz Mischo (1874-1939), Peter Müller (1905-1939), Peter Stadtfeld (1880-1944), Albert Valentin (1906-1940) und Friedrich Zender (1888-1939).
Der Fund der Patientenakte von Heinrich Wetzstein und die Erschließung seines Schicksals durch seinen Neffen Raimund Scholzen
Die weiterführenden Nachforschungen zur Aufklärung des Euthanasieschicksals von Heinrich Wetzstein begannen im Jahre 2009 mit der Anfrage eines in Trier lebenden Neffen. In seiner Mail vom 25. November 2009 bat Herr Raimund Scholzen den Verfasser um Unterstützung bei den Nachforschungen über seinen Onkel Heinrich, den er persönlich nicht mehr kennengelernt hatte, aber aus den Erzählungen seiner Familie wusste, dass er wahrscheinlich in einer Psychiatrieanstalt „von den Nazis ermordet“ wurde.
Nachfolgend wird die mit Herrn Scholzen bei der weiteren Aufklärung geführte Korrespondenz wiedergegeben. Sie zeigt exemplarisch das dezentrale und aktionistische Organisationsprinzip des Gedenkprojektes Stolpersteine. Wie bei Heinrich Wetzstein resultierten weitere Stolperstein-Verlegungen zum Gedenken an Trierer Euthanasieopfer aus einer ähnlichen Kooperation mit überlebenden Angehörigen.3
In seiner Mail vom 25. November 2009 begründete Herr Scholzen dem Verfasser sein Aufklärungsanliegen bereits mit dem Wunsch einer Stolpersteinsetzung:
„Es geht mir um einen Stolperstein für einen Bruder meiner Mutter, der höchstwahrscheinlich im Rahmen des sog. Euthanasieprogramms ermordet wurde. Sein Name ist Heinrich Wetzstein, er lebte von 1902 bis 1941/44(?). Sein Elternhaus war auch das meiner Mutter Gerta Scholzen geb. Wetzstein (1907 – 1968) und ihrer anderen Geschwister in Trier, Seizstraße 5; das Haus ist beim Bombenangriff im Dezember 1944 abgebrannt. Heinrich Wetzstein war der älteste von insgesamt sechs Geschwistern,…die inzwischen alle verstorben sind.
Ich selbst (Jahrgang 1939) habe ihn nie kennengelernt. Lt. Aussage einer meiner Tanten soll er an Epilepsie gelitten haben. Er soll eine Zeit lang in der psychiatrischen Abteilung des Trierer Brüderkrankenhauses gewesen und von dort nach Andernach gebracht worden sein. Hier verliert sich seine Spur…. Auf einem Familienfoto, um 1910 aufgenommen im Hof des ehemaligen Gasthauses „Zum Bahnhof“ in Biewer, ist er auch zu sehen. – Glauben Sie, dass Aussicht besteht, ihm einen Stolperstein zu setzen? Wenn ja, teilen Sie mir doch bitte mit, welche Voraussetzungen hierfür zu erbringen sind.
Mit freundlichen Grüßen Raimund Scholzen.“
Nach Rücksprache mit Herrn Scholzen führte Verfasser gezielte Suchanfragen bei den einschlägigen Archiveinrichtungen, unter anderem beim Bundesarchiv, dem Internationalen Suchdienst Bad Aarolsen und der Gedenkstätte Hadamar, jeweils mit einer beigelegten Autorisierung von Herrn Scholzen. Zur besagten Zeit waren die Sachbearbeiter im Landeshauptarchiv Koblenz gerade befasst mit der Erschließung der insgesamt ca. 20.000 Patientenakten der ehemaligen Zwischenanstalt Andernach.
Es gab von daher bis dato noch keinerlei Möglichkeit einer archivalischen Findbuch-Erschließung. Mit Schreiben vom 10. Juli 2010 bestätigte der im Landeshauptarchiv Koblenz zuständige Sachbearbeiter, Herr Dr. Jörg Pawelletz, die Überlieferung der Krankenakte von Heinrich Wetzstein. Da die Stolperstein-Projektklasse am Max-Planck-Gymnasium Trier im Herbst 2010 über Euthanasie-Opfer zu forschen begonnen hatte, bestand in Trier sozusagen ein doppeltes Interesse an einer baldigen Zugänglichmachung der erwähnten Akten. Aufgrund dessen beantragte Verfasser am 18. Oktober 2010 bei Herrn Dr. Pawelletz eine zeitnahe Einsichtsgenehmigung:
„Ich beziehe ich mich auf Ihren Brief vom 10-7. Zeichen F-Wetzstein. Das Schulprojekt für die nächste Stolpersteinverlegung im März beginnt Ende Oktober.
Im Einverständnis des Angehörigen – Herrn R. Scholzen – sollte auch die Patientenakte mit dem mutmaßlichen Informationen über das Lebensende von Heinrich Wetzstein eingesehen werden. Sie informierten sich am 10.7. über die sukzessive Fortsetzung der Erschließungsarbeiten. Für eine baldige Rückmeldung über den Sachstand wäre ich Ihnen dankbar.
Mit freundlichen Grüßen auch im Namen von Herrn R. Scholzen“.
Nach weiteren Absprachen mit dem Landeshauptarchiv erhielt Herr Scholzen die für ihn beantragte (kostenpflichtige) Reproduktion der Patientenakte seines Onkels. Ab Dezember 2010 arbeitete er an der Übertragung der in Sütterlin verfassten Aktentexte, die er dann nach und nach den Projektschülern über den Verfasser zur Verfügung stellte. In seiner Mail vom 4. Dezember 2010 erläuterte Herr Scholzen diese Kooperation, wobei er seine emotionale Berührung nicht verschwieg:
„Ich bin dabei, das Material, das das Landesarchiv mir geschickt hat, zu sortieren und die handschriftlichen Texte zu entziffern und in Klarschrift aufzuschreiben. Es ist nicht ganz einfach, die Sütterlinschrift zu entziffern. Sobald ich damit fertig bin, werde ich mich wieder bei Ihnen melden. Wenn Sie wollen, können wir uns aber auch einmal vorher treffen, dann bringe ich das Material eben in dem Bearbeitungszustand mit, den es eben hat; einige Textbeiträge kann ich nur mit Entsetzen lesen. Ich füge als Anlage schon mal die Berichte über seinen Aufenthalt bei den Barmherzigen Brüdern und in Andernach bei. … ich habe die Unterlagen nach verschiedenen Gesichtspunkten geordnet….“
Rekonstruktion der Biografie von Heinrich Wetzstein
Die anhängend auszugsweise zitierte Krankenakte enthält alle biografischen Angaben. Heinrich Wetzstein war von Beruf Korbflechter. Nach seinem Geburtstag vom 2. Februar 1902 ließen ihn seine katholisch verheirateten Eltern, Susanne Wetzstein geb. Steinbach und Heinrich Wetzstein, von Beruf Glaser, taufen. Das einzige erhaltene Porträtfoto wurde laut Herrn Scholzens zitierter Mail um 1910 in einer Gaststätte in Trier-Biewer aufgenommen.
Aus Heinrich Wetzsteins Jugendjahren gibt es in seiner Familie heute keine mündlichen Überlieferungen. Mit Sicherheit aber glaubt Herr Scholzen zu wissen, dass sein Onkel Anfang April 1922 selbst seine Einweisung in die damals noch „Irrenanstalt“ genannte Psychiatrieabteilung des Brüderkrankenhauses gewünscht hatte. Das einzige erhaltene Porträtfoto von Heinrich Wetzstein nach der Erinnerung von Herrn Scholzen im April 1909 in einer Wirtschaft aufgenommen.
Abb. 3 Heinrich Wetzstein. Porträtfoto April 1909. Quelle: Privatbesitz R. Scholzen.
Die Krankenakte belegt den strukturellen Leidensdruck, dem die Psychiatriepatienten der NS-Zeit ausgesetzt waren, und der die Allermeisten letztendlich zu schutzlosen Opfern des organisierten Krankenmordes hatte werden lassen.
Zu den wiederholten fachmedizinischen Diagnosen über seine augenfällige Epilepsie fehlen jeweils Informationen über die Einleitung adäquater Therapien, da solche nicht vorgesehen waren, also nicht vorkamen. Die Eintragungen seiner 1922 angelegten Krankenakte dokumentieren fallexemplarisch die vor der NS-Zeit bereits gängig Geringschätzung anstaltsbedürftiger Psychiatriepatienten als biologisch und moralisch minderwertige „Ballastexistenzen.“
Diese pervertierte Wertabschätzung des Psychiatriepatienten Wetzstein spricht aus den häufigen negativen Charakterzuschreibungen, in denen moralische Wertkategorien undifferenziert neben Negativabschätzungen seiner motorisch-kognitiven Fähigkeiten und Arbeitsproduktivität gestellt wurden. Der Patient Heinrich Wetzstein galt demnach als „oft lästig“ durch sein „Geschwätz“ (Krankenakte, Eintragung am 24.1. 1923), als „empfindsamer, reizbarer und gemeingefährlicher Epileptiker“,…“zum Arbeiten nicht zu gebrauchen“ (dito, Juni 1926), als „untätig, weil sehr verwirrt“ (dito, 29. April 1931), „schwerfällig in seinem Wesen“ und „übertrieben fromm“, als „gefühlskleberiger Epileptiker“ (1933 o.D.) und „charakterologisch stumpf, langsam, dement“ (dito, 15. November 1937).
Abb. 4 Heil- und Pflegeanstalt Trier: Aufnahmevermerk 4. April 1922
Dass sich die Anstaltspflege nicht oder kaum arbeitsfähiger Psychiatriepatienten wie Heinrich Wetzstein aus dieser Perspektive auf Dauer nicht lohnte, ist den Krankenblättern ebenfalls anhand einschlägiger Eintragungen abzulesen. „Im Übrigen unproduktiv“ schließt etwa der Rapport zu einem Tag im Oktober 1934. Den für die Eugenik-Ärzten einzig wichtig erscheinenden Zweck der Anstaltsverwahrung von Patienten wie Heinrich Wetzstein sahen Ärzte wie Dr. Anton Ewald Kreisch (1900-1968) in Andernach2 im Zusammenhang mit dem an der Universität Bonn koordinierten Großprojekt einer „rassenbiologischen Bestandsaufnahme“.3
Zwei Monate vor dem protokollierten Todesdatum notierte Dr. Kreisch unter der Rubrik „Bemerkungen“ einen diesbezüglichen Hinweis: „Sippentafel und Krankheitsdatei sind aufgestellt.“ Bei Erstellung der Sippentafel konnte Dr. Kreisch den früheren Eintrag des Trierer Anstaltsleiters und Psychiaters Dr. Jakob Faas (1887-1958)4 Faas vom 5. Februar 1936 berücksichtigten, in dem jener das Gesundheitsamt Trier auf angebliche Epilepsie-Vorfälle auch bei Wetzsteins Mutter hingewiesen hatte.
Abb. 5 1936: Erbbiologische Begutachtung erbeten vom Stadt-Gesundheitsamt
Abb. 6 Heil- und Pflegeanstalt Andernach: Aufnahmeprotokoll 15.08.1939
Abb. 7 Kleiderzettel bei Aufnahme in Andernach
Den von dem erwähnten Dr. Kreisch am 26. Januar 1940 notierten Sterbeeintrag „Exitus letalis“ ergänzte das Sonderstandesamt Andernach um die Uhrzeit „5 Uhr“; als Sterbeursachen waren die aus der Forschung einschlägig bekannten Kombination mordverschleiernder Falschangaben bezeichnet: „erbliche Fallsucht, zunehmender körperlicher und geistiger Kräfteverfall, Marasmus“.
Der Bestattungsschwindel – finaler Akt des verschleierten Massenmordes
Bei dem Verschleiern des Krankenmordes kooperierten die Verwaltungsbehörden auch bei der Regulierung der Bestattungsformalitäten. Hierüber verständigten sich am 3.4.1940 auf dem Deutschen Städtetages 200 Gemeindevertreter in einer nichtöffentlichen Sitzung. Auf dieser referierte der Euthanasie-Experte Viktor Brack (1904-1948).1 Erhalten ist die geheime Mitschrift des Bremische Senators Erich Vagts (1899-1986). Die folgend zitierte Passage enthält die verwaltungsbürokratischen Vorgaben für eine möglichste reibungslose Abwicklung des erhöhten Bestattungsaufkommens auf den Gemeindefriedhöfen. Der ursächliche Krankenmord wird abermals mit einem Tarnbegriff – hier erhöhte „Sterblichkeit“ – verschleiert:
„Aufzeichnung über die Sitzung des Deutschen Gemeindetags vom 3. April 1940 morgens Geheim!……Es seien z. Zt., etwa 300 000 Geisteskranke in etwa 600 Heil- und Pflegeanstalten untergebracht. Diese Anstalten würden dringend gebraucht zu anderen Zwecken: Reservelazarett, Luftschutz u.a.m. 30 bis 40% der Insassen seien asoziale oder lebensunwerte Elemente, infolgedessen werde die Umlegung dieser Elemente in primitive Unterkünfte durchgeführt werden, wodurch einige Unruhe in der Bevölkerung entstehen könnte. In diesen primitiven Unterkünften werde die Sterblichkeit natürlich erheblich größer sein, wodurch einige Unruhe in der Bevölkerung entstehen könne.-.Erbitte zweierlei.
a. Die Bevölkerung zu beruhigen.
b. auf den Friedhöfen nicht allzu viele neuen Gräber anzulegen und deshalb Einäscherungen vorzunehmen…..Es sei damit zu rechnen, dass die Angehörigen der Verstorbene sich gegen solche Einäscherungen wehren würden (vornehmlich, soweit katholisch) oder mindestens bitten würden, die Durchführung an einem fremden Orte vorzunehmen. Im Regefalle sei folgendermaßen zu verfahren: Mitteilung an die Angehörigen über Sterbefall und dabei Äußerung ersuchen, ob Zusendung der Urne erwünscht wird, widrigenfalls sonst Beisetzung auf dem nächstgelegenen Urnenfriedhof erfolgen würde (und zwar kostenlos). Es würden also demnächst Städte mit Urnenfriedhöfen von irgendwoher Urnen zugesandt erhalten: die Städte werden gebeten, an den Beigeordneten Dr. Schlüter im Deutschen Gemeindetag persönlich mitzuteilen, wie die Urnen adressiert werden sollen (Regelfall. Oberbürgermeister /Friedhofsverwaltung in….), Wo dazu ernannte oder Beamte der Friedhofsverwaltung diesen Dingen gegenüber etwa eine ablehnende Haltung hätten, müssten sie unbedingt umgangen werden. Die Verbrennung werde bezahlt werden; allgemein möglichst vermeiden, dass unnötige Rechnungen herumschwimmen. In jedem Falle werde sich die „Gemeinnützige Krankentransport GmbH“ vor Zusendung von Urnen mit der betreffenden Stadt in Verbindung setzen. Die ganze Aktion müsste unbedingt mit äußerster Vorsicht durchgeführt werden, sonst wohlmöglich Gefahr, dass die USA dies zum Anlass für Kriegseintritt nehmen würden.- Reichsleiter Piehler ermannte abschließend zu größte Geheimhaltung. 3.4. 1940. Vagts“.
Inwieweit die katholischen Pfarr- und Standesämter der katholischen Stadt/Region Trier kooperierten, wurde in der Regionalhistorie noch nicht hinterfragt. Die Möglichkeit einer solchen Kooperation ist allerdings nicht auszuschließen. Auf dem Friedhof der katholischen Pfarrei von Waldniel-Hostert bestattete der Pfarrer die Leichen der in der Kindereuthanasie-Anstatt Waldniel in wiederverwendbaren Klappsärgen. In dem erhaltenen Totenbuch der Pfarrei St. Michael wurden diese Sterbefälle offensichtlich durch Streichungen und Herausreißen von insgesamt 25 Blättern verschleiert, „um Nachforschungen zu erschweren.“3
Laut der Krankenakte verfuhren die NS-Behörden nicht anders bei der „Bestattungsangelegenheit“ (Hervorhebung T.S.) des Heinrich Wetzstein. Am 27. Januar 1940 erging eine solche Mitteilung an Bernhard Wetzstein, einen Bruder von Heinrich. Der angebliche Beerdigungstermin auf dem Anstaltsfriedhof in Andernach sollte demnach am 29. Januar, Nachmittags um 15 Uhr stattfinden.
In der Familie ist nichts bekannt über die Durchführung dieser angeblichen Bestattung in Andernach. Die überlieferte Korrespondenz belegt aber doch, dass die Behörden auch diese letzte Verwaltungsakt in der Angelegenheit des Patienten Heinrich Wetzstein vorschriftsmäßig und gewissenhaft erledigten.
Abb. 8 „Krankheitsverlauf“ Andernach. Letztes Blatt
Abb. 9 Sterbeeintrag Sonderstandesamt Andernach
Abb. 10 Beerdigung auf dem Anstaltsfriedhof: Benachrichtigung eines Angehörigen
Dokumentation der Krankengeschichte von Heinrich Wetzstein anhand seiner Patientenakte (Auszüge)
1922 04. April: | Anamnese: Mutter des Pat. in der Jugend epileptisch. Pat. seit dem 11. Jahre epileptisch…Anfälle 2-3x in der Woche. Die jetzige Krankheit begann am 10.Feb. 1922, er sprach nichts, führte dann am folgenden Tag unverständliche Redensarten, indem er den Kopf zwischen die Beine presste: „Was ich nicht im Kopf habe, habe ich in der Hölle.“ Viel Schlaflosigkeit, Kopfschmerzen. Zeitlich und örtlich unorientiert. Nach 3 Tagen war Pat. wieder völlig geordnet, gibt zu, an epileptischen Anfällen zu leiden, er sei aber sonst nicht krank, er wolle einige Zeit hier (Wort unleserlich, „bleiben?“). Spricht langsam und mit echt epileptischer Umständlichkeit. |
1922 22. Juli: | Tritt nicht weiter in Erscheinung. |
völlig unveränderter, zugleich ruhiger und harmloser Epileptiker, klebt Tüten. | |
1923 24. Januar: | Unverändert. Mehrmals Anfälle in der Woche und dann erregt, schlägt auch schon mal los. Zuweilen auch religiös….verstimmt (Wort sic?), er komme in die Hölle. Oft dann lästig durch sein Geschwätz. Klebt Tüten. |
1926 (ohne Datum) Juni: | Sehr empfindsamer, reizbarer und gemeingefährlicher Epileptiker. Hat tourenweise (Wort sic?) seine Anfälle, 4-5 mal in der Woche. Schlägt und beißt in seinem Erregungszustand. Zu Zeiten der Ruhe ist er geordnet und geht gerne in die Küche. Zum Arbeiten nicht zu gebrauchen. |
1929 (ohne Datum) Januar: | Noch ganz derselbe. Patient ist zu keiner Arbeit zu gebrauchen. Infolge seiner epileptischen Anfälle neigt oft zu Gewalttätigkeiten. |
1932 (ohne Datum) November: | Verfertigt mit großer Geduld und sehr umständlich Sägen en miniature, macht Rosenkränze aus Obstkernen, bastelt überhaupt gerne. Schwerfällig in seinem Wesen, übertrieben fromm. Ca 5 Anfälle in der Woche mit nachfolgend anhaltender Bewusstseinsstörung. |
1933 undatiert: | Gefühlsklebriger Epileptiker. Beschäftigt sich mit Rosenkranzflicken und anderen Arbeiten. Zeitweilig Erregungszustände… |
1934 Oktober: | Arbeitet emsig und unverdrossen an Kleinigkeiten und Basteleien herum. Hat oft schwere epileptische Anfälle. Im übrigen unprodukiv |
03. Februar 1936 | Gesundheitsamt Trier erbittet für eine erbbiologische Untersuchung um Angabe der Diagnose betr… Heinrich Wetzstein |
05. Februar 1936 | Antwort: Heinrich Wetzstein….befindet sich…wegen epileptischer Anfälle mit Charakterveränderungen in der hiesigen Anstalt. Nach den Akten soll die Mutter des Patienten in der Jugend epileptisch gewesen sein. |
1936 4. April: | Psychisch unverändert. Hinsichtlich des Charakters und der Anzahl der Anfälle keine Änderung |
1936 21. Oktober: | Noch auf Abteilung 7. Weitschweifiges, umständliches und langweiliges Wesen. Anfälle treten unregelmäßig auf in sehr heftiger Weise. Weitgehend dement. |
1937 15. November: | Hinsichtlich der Anfälle keine Änderung. Charakterologisch stumpf, langsam, dement… |
1938 5. April: | Anfälle sind etwas seltener geworden. Psychisch schreitet die Verödung fort. Der Patient sitzt teilnahmslos herum, zupft hier und da. Wird immer dementer. |
1938 5. Oktober: | Unter gelegentlichen Verstimmungen und Erregungszuständen leidender Epileptiker. Verblödung schreitet fort. Geht körperlich langsam zurück, bekommt noch immer regelmäßig seine Anfälle. Auf Abteilung 7. |
1939 1.Mai: | Unverändert, launischer Epileptiker mit gelegentlichen Erregungszuständen. Geht geistig zusehends zurück |
1939 15. August: | verlegt nach Andernach (Station) I c |
1939 12.September: | Aus Platzgründen verlegt nach H.C: Psychisch erheblich dementer Epileptiker. Äußerst lästiges, quengelndes Wesen, erhebliche epil. Wesens- und Charakterveränderungen, sich selbst überlassen, sitzt Pat. (ient) stumpf vor sich hinbrütend im Tagesraum der Abt. (Verlegt nach) II C |
1939 28. Oktober: | Ist nach den bisher beobachteten Anfällen, die ganz das Gepräge großer generalisierender Anfälle haben, längere Zeit verwirrt. |
1939 28. Dezember: | Geht in den letzten Wochen dauernd rapid zurück. Psychisch: stumpfer und dementer Epileptiker. Bemerkung: Sippentafel und Karteikarte sind aufgestellt. |
1940 26. Januar | Exitus letalis (Unterzeichner:) Dr. Kreisch |
Quellen
Raimund Scholzen (Trier): um 1910 aufgenommenes Porträtfoto von Heinrich Wetzstein; Mail-Korrespondenz mit Verfasser (2009 bis 2017)
Jörg Pawelletz (Landeshauptarchiv Koblenz): Schreiben vom 10. Juli 2010
Landeshauptarchiv Koblenz: Best. 426,006 Provinzial- Heil- und Pflegeanstalt Andernach Nr. 20753 „Krankentransporte“ Männer A-Z und „Krankentransporte“ Frauen A-Z
Landeshauptarchiv Koblenz Best. 426.006 Provinzial- Heil- und Pflegeanstalt Andernach Nr. 13505 Patientenakte Heinrich Wetzstein
Presseberichte über die Stolpersteinverlegung
Ariane Arndt: Erinnerung auf zehn mal zehn Zentimetern. Künstler Gunter Demnig verlegt weitere 14 Messingplatten zum Gedenken an Opfer des Nationalsozialismus. In: Trierischer Volksfreund vom 7. April 2011
„Opfer bekommen Namen wieder“, in: Rathaus-Zeitung vom 12. April 2011
Sandra Blass-Naisar: Die stille Botschaft der Stolpersteine. In: Paulinus Ausgabe 17/2011
Literatur
Heinz Faulstich: : Hungersterben in der Psychiatrie 1914-1949: mit einer Topografie der NS-Psychiatrie. Freiburg/Breisgau 1998
Günter Haffke: Die Rolle der Provinzial Heil- und Pflegeanstalt Andernach bei der nationalsozialistischen „Euthanasie“. In: Arbeitskreis zur Erforschung der nationalsozialistischen „Euthanasie“ und Zwangssterilisation (Hrsg.): „….Wir waren samt und sonders gegen die Durchführung der Euthanasie-Aktion. Zur NS-Euthanasie im Rheinland. Münster 2009, S. 87-108
125 Jahre Rhein-Fachklinik Andernach. Festschrift zum 125-jährigen Gründungsjubiläum 2001
Michaela Hocke und Jörg Pawelletz: Neue Quellen für neue Forschungen: intensive Erschließung von personenbezogenen Einzelfakten der Gesundheits- und Sozialverwaltung ermöglichen neue Fragestellungen und Forschungsansätze. In: Unsere Archive Nr. 59 (2014), S. 1-5