15.11.18: Bundesarchiv macht seit 30.08.18 Namen der Opfer von NS-„Euthanasieverbrechen“ online zugänglich – Stellungnahme der AG-BEZ zur Entscheidung

Am 30.08.18 teilte das Bundesarchiv in einer Presseaussendung mit, dass die Recherche nach Opfern der NS-„Euthanasieverbrechen“ erleichtert wird. Ab sofort ist eine personenbezogene Suche nach Patientenakten auch online möglich.

Der Bestand R 179 „Kanzlei des Führers, Hauptamt IIb“ des Bundesarchivs umfasst rund 30.000 Krankenakten von Opfern der NS-„Euthanasie“ und ist über eine Datenbank erschlossen, die unter anderem Namen, Geburtsdaten und Anstaltsorte zu den Opfern der Tötungsverbrechen enthält. Diese Erschließungsinformationen hat das Bundesarchiv jetzt auch online bereitgestellt.

„Damit haben insbesondere Hinterbliebene von „Euthanasie“-Opfern die Möglichkeit festzustellen, ob beim Bundesarchiv Unterlagen zu ihren Angehörigen vorliegen, ohne dafür das Bundesarchiv aufsuchen oder kontaktieren zu müssen. Auch für Gedenkstätten und Erinnerungsorte wird die Recherche durch diesen Schritt erheblich vereinfacht“, heißt es in der Mitteilung.

Die Frage der Veröffentlichung der Namen von Opfern der NS-„Euthanasie“ ist „Gegenstand einer langjährigen, intensiv geführten gesellschaftlichen Debatte.“ Aufgrund der fortwirkenden Stigmatisierung körperlicher und geistiger Behinderung in der Bundesrepublik hatten einzelne Familienangehörige und der Bund der „Euthanasie“-Geschädigten lange Zeit Widerspruch gegen eine Veröffentlichung der Namen eingelegt.

In jüngerer Zeit sei aber vermehrt öffentliche Kritik an der daraus resultierenden und durch Gerichtsentscheidungen bestätigten restriktiven Praxis der Archive geübt worden. „Eine Petition an den Deutschen Bundestag, die Diskussion um das Münchener Gedenkbuch für die Opfer der NS-„Euthanasie“ und die Erkenntnisse aus einer Konferenz der Kulturstaatsministerin zum Thema „Gedenken und Datenschutz“ haben mit zu einer Neubewertung der Frage beigetragen“, heißt es in der Mitteilung des Bundesarchives.

Das Gutachten des früheren Vizepräsidenten des Berliner Verfassungsgerichtshofs, Ehrhardt Körting, aus dem Jahr 2014, kam laut Bundesarchiv ebenfalls zu dem Schluss, dass durch Wiedergabe von Namen, Geburts- und Sterbedaten der Opfer keine schutzwürdigen Belange der Angehörigen verletzt würden. Einer gesetzlichen Schutzfrist unterlägen die personenbezogenen Akten des Bestands R 179 ohnehin nicht mehr.

„Nach intensivem fachlichen Austausch und vor dem Hintergrund des breiten Einvernehmens darüber, dass im Zeitalter der Inklusion die Opfer der NS-Euthanasie nicht länger verschwiegen werden dürfen und ein liberalerer Umgang mit den archivischen Quellen zur NS-„Euthanasie“ im Interesse der wissenschaftlichen und familiengeschichtlichen Forschung geboten ist, hat sich das Bundesarchiv zur Veröffentlichung der Erschließungsdaten entschlossen. Die Nutzung der einzelnen Akten, die sensible Krankenunterlagen enthalten können, muss allerdings weiterhin einer sorgfältigen Prüfung und Güterabwägung im Einzelfall unterliegen“, so das Bundesarchiv abschließend.


Die AG-BEZ beurteilt die Situation anders und veröffentlicht am 15.11.18 daher die folgende Stellungnahme:

Stellungnahme der Arbeitsgemeinschaft Bund der „Euthanasie“-Geschädigten und Zwangssterilisierten zur Pressemitteilung des Bundesarchivs vom 30.08.2018 zur Online-Veröffentlichung von Namen der „Euthanasie“-Opfer

Die Namen der „Euthanasie“-Opfer sollen auf der Internetseite des Bundesarchivs vollständig zu recherchieren sein. Das bestürzt uns sehr. Die Namen der Opfer sind nun öffentlich.

Die Diskussion darum dauert schon einige Jahre. Der BEZ hat sich von Beginn der Diskussion an gegen eine öffentliche und auch im Internet abrufbare Namensnennung gewandt. Es wurde immer wieder seitens der Befürworter vorgebracht, damit „den Opfern ihre Würde wieder geben“ zu wollen. Dies sei für wissenschaftliches Arbeiten geboten. Diese Forderung ist fragwürdig, da Namen in wissenschaftlichen Arbeiten regelmäßig anonymisiert werden und eine Benennung nicht notwendig ist.

Im Engagement für die Opfergruppen kann man politisches und gesellschaftliches Vorgehen – aus unserer Sicht – nicht trennen. Die Befürworter müssen sich deshalb fragen lassen, warum ihnen der jahrzehntelange Kampf der Opfer von Zwangssterilisation und der „Euthanasie“ – Geschädigten um Gleichstellung mit den anderen NS-Verfolgten offensichtlich gleichgültig ist.

Die jetzt angekündigte Praxis ist lediglich eine Anordnung des Bundesarchivs. Es ist bislang kein Gesetz.

Juristisch gilt nach wie vor, dass für die Opfer und ihre Angehörigen das Allgemeine Persönlichkeitsrecht gilt. Die Rechtsprechung entschied wiederholt gegen die Veröffentlichung personenbezogener Daten.

Bezug auf die Inklusion nicht überzeugend

In der Pressemitteilung des Archivs wird Bezug auf die Inklusion genommen. Das Argument ist nicht überzeugend. Es lässt außer Acht, dass die Opfer im Sinne der NS-Ideologie vom lebensunwerten Leben stigmatisiert, misshandelt und getötet worden sind. Die Argumentation der „Befürworter“ der nun möglichen Namensnennungen, lässt diese Dimension ihrer Leiden außen vor.

Die Ausgrenzung zu den nach dem Bundesentschädigungsgesetz (BEG) definierten NS-Verfolgten folgt der seit Jahrzehnten wiederholten Aussage, dass ihr Leid kein „typisches NS-Unrecht“ gewesen sei. Die Bundesregierung und das Parlament sind bis heute nicht bereit, diese Diskriminierung und Stigmatisierung der Zwangssterilisierten und der Angehörigen der „Euthanasie“-Opfer aufzuheben.

Die Fokussierung auf die Namen führt dazu, die Opfer zu individualisieren; die gesellschaftlichen Strukturen und Prozesse sind dann nur noch im Hintergrund oder am Rande wahrnehmbar. Die Opfer werden durch diese Individualisierung der Gesellschaft quasi – ich benutze den Begriff bewusst so allgemein – gegenübergestellt. Sie selbst, die Opfer, und nicht die Ursachen und Folgen der rassistischen Verfolgung, stehen im Vordergrund dieser Betrachtungsweise. Demgegenüber wäre es viel wichtiger, die Kontinuitäten vor der Zeit des Nationalsozialismus, während der Zeit des Nationalsozialismus und danach herauszuarbeiten und zu bewerten. Denn die Opfer von Zwangssterilisation und „Euthanasie“ sowie ihre Angehörigen waren und sind über die ganze Zeit im Fokus der Eugeniker und dem Sozialrassismus ausgesetzt.

Das Leid der Opfer hat die Menschen traumatisiert. Durch die diskriminierenden und ausgrenzenden Handlungsweisen in Politik und Gesellschaft haben sich ihre Traumata nach 1945 in der Bundesrepublik Deutschland fortgesetzt. Aber es hätte auch ganz anders verlaufen können, indem sie Gerechtigkeit erfahren hätten und man ihrem Leid ein Namen gegeben hätte. Dies wurde versäumt. Die Opfer wurden dadurch wiederholt traumatisiert.

Anhaltende ausgeprägte Scham der Opfer und Angehörigen

Ihre subjektive Situation wird dadurch erschwert, dass sie ihren Traumatisierungen mit Scham begegnen. Das ist ein Grund, warum die meisten der Zwangssterilisierten und die Kinder der „Euthanasie“-Opfer gegen eine öffentliche Namensnennung sind (auch wenn es von den Befürwortern der Namensnennung anders behauptet wird). Ihre Beschämung und ihre Stigmatisierung, im Nationalsozialismus als „lebensunwert“ gegolten zu haben, hat sich in den gesellschaftspolitischen Entwicklungen nach 1945 in Deutschland fortgesetzt. Viele Opfer haben es so empfunden. Es gab aber auch Opfer, die sich durch ihr subjektiv politisches Handeln nicht von diesen Erfahrungen und der herrschenden Ideologie leiten ließen. Diejenigen, die dies nicht schafften, litten bzw. leiden unter diesen über Jahrzehnte gemachten Diskriminierungen.

Über ihre ausgeprägte Scham sprachen bzw. sprechen sie mit uns, ihrer Opfervertretung. Sie kämpften und kämpfen persönlich und durch die Stimme des BEZ darum, ihre Scham zu überwinden. Aber diese Scham konnte bis heute nicht durch die gesellschaftspolitischen Entwicklungen aufgehoben oder gelindert werden. Sie ging bzw. geht einher mit ihren Traumatisierungen und einer gesellschaftlichen Nicht-Akzeptanz ihrer Leiden. Es hat sie fast verstummen lassen.

In unseren Gesprächen, sowohl mit Zwangssterilisierten als auch mit den Kindern der „Euthanasie“-Opfer, den „Euthanasie“-Geschädigten, wird immer wieder diese Scham angesprochen. Sehr viele von ihnen sprachen und sprechen sich deshalb in Interviews oder Berichten über ihr Leben immer noch gegen die Nennung ihrer Namen aus. Diese Weigerung ist vor dem Hintergrund zu verstehen, was sie als NS-Opfer in den Jahrzehnten nach dem Krieg in unserem Staat erlebten. Ihre Bedenken akzeptieren wir.

Namensnennung gibt den Betroffenen nichts von ihrer Würde zurück

Eine Namensnennung in Ausstellungen, Gedenkbüchern und Datenbanken im Internet gibt den Betroffenen nichts von ihrer Würde zurück. Sie stigmatisiert sie weiter. Die Namensnennung ist eine Missachtung der Wünsche der meisten noch lebenden Opfer der 1. und 2. Generation, die sich gegen eine öffentliche Namensnennung aussprechen. Denn die „Euthanasie“-Geschädigten sind ja die Kinder der Ermordeten und tragen ihre Namen. Anders sieht es bei der Enkel- und Urenkel-Generation aus. Teilweise sehen einige von Ihnen eine Namensnennung ihrer Angehörigen im öffentlichen Raum positiv. Aber auch in dieser Generation gibt es unterschiedliche Bewertungen zur Veröffentlichung ihrer Angehörigennamen.

Ansprechen möchte ich auch, dass es nach wie vor in der Gesellschaft die Bewertung bestimmter Personengruppen als „Lebensunwerte“ gibt. Es sind Bestrebungen zur Selektion von Menschen am Lebensanfang und am Lebensende erkennbar. Die Ängste der Menschen sind verständlich.

Deshalb fordert der BEZ, den Wunsch der NS-Überlebenden zu akzeptieren und bei einer geplanten Veröffentlichung die noch Lebenden nach ihrem Willen zu fragen. Auch ist es keineswegs beschwerlich, sondern der Achtung vor den Misshandelten und Getöteten geboten, die Nachkommen um Erlaubnis zur Veröffentlichung zu fragen. Dann steht dem nichts im Wege. Widersprechen sie der Veröffentlichung, so ist diese zu unterlassen. Dies achtet das Ansehen, die Würde und die Wünsche der Betroffenen.

Eine Nennung der Namen in den Gedenkstätten – und nur dort – erfolgt in einem geschützten Raum. Aber die Opfernamen in Datenbanken im Internet und in Gedenkbüchern, wenn sie weltweit öffentlich verfügbar sind, entwickeln ein Eigenleben und sind, vor dem beschriebenen gesellschaftspolitischen und biographischen Hintergrund der Opfer, nicht zu akzeptieren.

Die Würdigung der Zwangssterilisierten und der Angehörigen der „Euthanasie“-Opfer im Nationalsozialismus und in der späteren Bundesrepublik muss sich auf eine ethisch/moralische Einschätzung und auf die Akzeptanz in unserer demokratischen Gesellschaft beziehen, das heißt, auch die politische Dimension nach dem Faschismus muss in der Bewertung mit einbezogen werden.

Margret Hamm
(für die Arbeitsgemeinschaft Bund der „Euthanasie“-Geschädigten und Zwangssterilisierten)

Der Text ist angelehnt an meinen Vortrag zum Thema „Den Opfern einen Namen geben“ vom Juni 2016 in der Topographie des Terrors, Berlin.

Ergänzende Informationen:

Euthanasie im Dritten Reich – Hinweise zu den Patientenakten aus dem Bestand R 179 Kanzlei des Führers, Hauptamt II b
Bundesarchiv, 30.08.18

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