11.12.23: Vorstellung der Forschungen der Lancet-Kommission zur Medizin im Nationalsozialismus

Am 14. November 2023 wurden in der Charité Berlin die Forschungsergebnisse der zweijährigen Arbeit von zwanzig Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern vorgestellt. Das Thema der Forschung der Lancet-Kommission war: „Medicine, Nazism, and the Holocaust: Historical Evidence, Implications for Today, Teachings for Tomorrow“.

Die Arbeitsgemeinschaft BEZ wurde gebeten ein Statement zu den Ergebnissen abzugeben.

Statement zum Lancet Report in Berlin am 14.11.2023

Der Bund der „Euthanasie“-Geschädigten und Zwangssterilisierten (BEZ) begrüßt die Forschungen der Kommission. Meine Gedanken zu den Forschungsergebnissen speisen sich durch den Kontakt mit den Opfern und ihren Lebensberichten.

Die eugenische Bewegung – seit der Industrialisierung im 19. Jahrhundert – und im Nationalsozialismus die Rassenhygiene mit ihren Vertretern und Handelnden aus Politik und medizinischen Berufen, brachte den Verfolgten Verletzungen und Tod. Die ideologische Ausrichtung auf die germanische (arische) Mythologie und das „Lebensrecht“ nur der Starken und Gesunden, schuf in der Bevölkerung die Akzeptanz zur Selektion in der medizinischen Versorgung und in der Gesellschaft.

Die Zwangssterilisierten und die zur Ermordung selektierten waren den medizinischen Versuchen durch die Täter aus Politik, Gesellschaft und den Ärzten ausgeliefert. Aus Berichten Betroffener und ihrer Familien wissen wir z.B. von Einschränkungen bei der Berufswahl und Heirat, Forschungen und Experimente zu verschiedenen Krankheiten – oft unterstellten Krankheiten – bis hin zur Tötung der Menschen, um an ihre Organe für die Forschung zu gelangen.

Die durch die Zwangssterilisation herbeigeführten physischen und psychischen Verletzungen blieben den Menschen oftmals bis zu ihrem Tod. In ihren lebensgeschichtlichen Berichten erzählten sie es uns immer wieder. Durch ihre gesellschaftliche und entschädigungspolitische Ausgrenzung in der Bundesrepublik hatten sie kaum eine Möglichkeit, medizinische Behandlungen für das Erlittene zu erhalten, zumal oftmals die ehemaligen NS-Mediziner weiterhin als Ärzte tätig waren.

Der BEZ forderte immer eine Entschädigung für diese Opfergruppe, die eine gesundheitliche Versorgung und Betreuung einschloss – leider ohne Erfolg. Wir forderten es, weil die meisten der von uns vertretenen Opfer durch den im Nationalsozialismus vorgezeichneten Lebensweg traumatisiert und auch arm waren.

Die gesundheitliche Versorgung heute ist glücklicherweise eine andere, obwohl sie in einigen Bereichen auf den Forschungen und Experimenten der Nazis aufgebaut hat. Aus dieser Erfahrung heraus muss auch bei Forschungen, die es heute an Menschen gibt, verpflichtend sein, diese kritisch zu hinterfragen. Die Probanden müssen ihr Einverständnis geben. Es gibt aber auch immer wieder Aussagen, wo das nicht geschah. Ich erinnere mich an Berichte aus sogenannten Entwicklungsländern, wo eine deutsche Pharmafirma medizinische Forschungen an Frauen vorgenommen und sie ohne ihr Wissen und Einverständnis sterilisiert hat.

Wenn wir an die Forschungen im Nationalsozialismus denken und auf die Selektionen und die oftmals auf Denunziationen beruhenden Verfolgungen, kommen uns Gedanken zu Entwicklungen, wie sie heute in unverdächtiger „neuer“ Sprache als „Fortschritt“ zu beobachten sind (aus Eugenik wurde z.B. die Humangenetik). Gemeint sind die Entscheidungen am Lebensanfang, ob ein behindertes Kind leben darf oder nicht und die von Gesetzen begleiteten Entwicklungen am Lebensende, wann ein Menschenleben (möglicherweise) zu beenden ist. Diese Vorstellungen sind für die Opfer der Zwangssterilisation und für die Angehörigen der Ermordeten unerträglich und erinnern stark an die Gesundheitspolitik im Nationalsozialismus.

Die Gesundheitsvorsorge heute müsste für alle Kranken gleich sein und es dürfte keine Versorgung durch eine Zweiklassenmedizin geben, denn alle Menschen, auch diejenigen, die die NS-Zeit überlebten, haben ein Recht, bestmöglich versorgt zu werden.

Aus Sicht des BEZ wäre es für die Opfer der Zwangssterilisation und die Angehörigen der „Euthanasie“-Opfer wünschenswert, außerhalb der Wissenschaft in der Gesellschaft, ethische und moralische Themen zu diskutieren, um zukünftige menschenwürdige Entscheidungen in der medizinischen Versorgung festzuschreiben.

Arbeitsgemeinschaft Bund der „Euthanasie“-Geschädigten und Zwangssterilisierten

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Ergänzende Informationen zu den Ergebnissen der Lancet-Kommission:

The Lancet Commission on medicine, Nazism, and the Holocaust: historical evidence, implications for today, teaching for tomorrow
Published: November 8, 2023

Nationalsozialismus: Wissen in Ausbildung integrieren
Dtsch Arztebl 2023; 120(48): A-2034 / B-1728

„Verhindern, dass Heiler zu Mördern werden“: Lancet-Kommission fordert mehr GeschichtsbewusstseinPolitik, Ökonomie und Ideologie können auch heute das ärztliche Ethos bedrohen
Institut für Medizinische Anthropologie und Bioethik (IMABE) 01.12.23

„Sie wurden von Engeln der Hoffnung zu Todesboten“
Süddeutsche Zeitung SZ, 24.11.23 (Hinweis: Dieser Artikel ist für SZ-Abonennten frei, für alle anderen kostenpflichtig)

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